Einfach laufen lassen – echt jetzt?!

„Die Kinder wissen schon selbst, was sie wollen und was für sie gut ist!“

Bei diesem Satz wallt es noch heute in mir hoch.

Wenn aus Erneuerung Verschlechterung wird

Gehört habe ich ihn zum ersten Mal vor vielen Jahren, als meine älteste Tochter gerade ein Jahr in den Kindergarten ging – gerne übrigens. Sie fühlte sich dort gut aufgehoben. In einer überschaubar großen Gruppe mit zwei Erzieherinnen und einem eigenen Gruppenraum, in dem die Kinder unter Anleitung bastelten, vorgelesen bekamen, zusammen sangen, gemeinsam in der Gruppe spielten. Eben alles, was es braucht, um zu lernen, sich in eine Gemeinschaft einzubringen und sich dort auch einzufügen. So weit, so gut. Aber plötzlich wurde alles anders. Mit einem neuen pädagogischen Konzept, das ein neues ‚offenes‘ Miteinander propagierte. Kern dieser Initiative war die Auflösung der Gruppen und die Umgestaltung der Gruppen- in Themenräume. Die Kinder sollten einfach selbst aussuchen, was sie am liebsten machen wollten (Spielraum, Turnraum, Bastelraum, Ruheraum, Leseraum etc.) und auch ihren Verbleib in diesen Räumen frei wählen dürfen.

Feldversuch gescheitert

Ich mache es kurz. Es endete in einem mittleren Chaos. Kinder, die von Natur aus eher schüchtern waren, irrten ziellos in der Kita umher, Erzieherinnen wussten teilweise gar nicht mehr richtig, welche Kinder gerade wo sind und was sie an diesem Tag gemacht haben, weil es natürlich auch mit der Aufsicht und Dokumentation der Aktivitäten hinten und vorne nicht funktionierte. Trotzdem war die überwiegende Mehrheit des Kita-Teams beseelt von der Vorstellung, dass die Kinder ihren ‚eigenen‘ Weg finden.

Erziehung ist Arbeit

Warum ich das alles erzähle? Weil es nach meinem Empfinden in eindrücklicher Weise aufzeigt, dass wir es immer mehr verlernen, unsere Kinder zu sozialkompatiblen und leistungsfähigen Mitgliedern unserer Gesellschaft zu machen.

Zwischen den Extremen

Es gibt keine vernünftige Balance mehr zwischen Autorität und Laufenlassen. Nein, Kinder wissen erstmal nicht, was für sie gut ist. Sie lernen und erfahren das, indem wir Erwachsenen es ihnen zeigen bzw. vorleben. Ein Kind, das in seinem Alltag einen festen Rahmen und eine feste Struktur hat, kann sich innerhalb dieser ‚Leitplanken‘ entwickeln, weil Struktur Sicherheit gibt und Vertrauen schafft. Und es ist an uns Eltern und Erziehern und Erzieherinnen, diese Strukturen zu schaffen. Dazu gehört auch, unsere Kinder zu fordern.  Das funktioniert aber nicht ohne einen gewissen Nachdruck. Vor dem sich allerdings viele Erwachsene scheuen, weil sie ihn entweder als ‚zu autoritär‘ empfinden oder weil es ihnen einfach zu anstrengend ist, konsequent und nachdrücklich zu sein.

Antiautoritärer Irrglaube

Wer sich und seine Erziehung gerne so stolz als ‚antiautoritär‘ bezeichnet, ist in vielen Fällen leider einfach nur zu bequem, um sich mit seinen Kindern auseinanderzusetzen und Grenzen nicht nur aufzuzeigen, sondern sie auch zu halten. Genau das müssen wir aber in der Erziehung, denn Kinder testen Grenzen aus. Permanent. Nicht unbedingt, um sie zu überschreiten, sondern um sie überhaupt erstmal kennenzulernen. Damit sie sich dann, innerhalb dieser Grenzen einen sicheren Weg ins Erwachsenwerden bahnen.

Falsche Grundannahmen

Unsere Kinder sollen es doch gut haben, oder? Ja, das sollen sie. Aber nicht um den Preis, dass sie nicht mehr mit Rückschlägen und Krisensituationen zurechtkommen.  Denn auch das gehört zu einem gelungenen Leben. Dass man durch die Täler gehen kann, um die Höhen besser wertzuschätzen. Aber wie sollen Kinder so etwas lernen, wenn Eltern wegen jeder Strafarbeit und jeder schlechten Note sofort in der Schule vorstellig werden und erstmal die Lehrkraft in den Senkel stellen? Wie sollen Kinder jemals mit Kritik umgehen können, wenn wir jeden Krakelstrich als Meisterwerk bejubeln? Und wie sollen Kinder lernen, was Trauer ist und wie man damit fertig wird, wenn wir den Tod immer mehr aus unserer Gesellschaft verbannen und Kinder noch nicht mal mehr auf Beerdigungen mitnehmen?

Bittere Quittung

Wie sehr dieses ‚Ersparen wollen‘ und dieses ‚Nicht abverlangen können‘ nach hinten losgeht, erleben wir jetzt.  Die Deutsch- und Mathematik-Kenntnisse von Grundschulkindern werden immer unzulänglicher, die Sozialverträglichkeit zwischen Kindern/Jugendlichen schwindet (leider auch pandemiebedingt) immer mehr.

Und das Schlimmste: Die Generationen driften immer weiter auseinander.

Wenn der Zusammenhalt zerbricht

Schon jetzt liegen zwischen der Eltern- und Kindergeneration oft deutlich mehr als 30 Jahre. Das hat unter anderem zur Folge, dass Kinder ihre Großeltern nicht selten in einem gebrechlichen Zustand erleben und eine echte Interaktion bzw. Verständigung zwischen den Generationen nicht mehr wirklich möglich ist. Das ist schlecht. Schlecht für unser Zusammenleben, unseren gesellschaftlichen Frieden und für uns als Gesellschaft überhaupt. Weil der Respekt und das Verständnis, das Mehrgenerationenfamilien früher füreinander aufbringen mussten, schwinden. Nein, früher war nicht alles besser. Es gab zu jeder Zeit Konflikte zwischen den Alten und den Jungen. Und ja, viele Menschen wollen heute erst die berufliche Sicherheit und dann die Familiengründung. Aber man muss sich fragen, ob das wirklich der richtige Weg ist, wenn wir dadurch den Bezug zueinander verlieren.

Fatale Folgen

Was dieses Auseinanderdriften und unsere – ich sage bewusst unsere, denn auch ich zähle mich zur Elterngeneration – Erziehung angerichtet haben, das sehen wir schon heute: Alt und jung hacken lieber aufeinander ein und werten sich gegenseitig ab, als miteinander zu reden und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Erfahrung zählt nicht mehr viel. Respekt war gestern. Und viele sind von vielem schnell überfordert.

Meins. Meine Work-Life-Balance. Meine Komfortzone. Mein Leben. Meins.

So kommen wir als Gesellschaft nicht weiter. So werden wir keine der großen und dringlichen Herausforderungen meistern.

Konsequenz. Rücksichtnahme. Leitplanken. Unterstützung. Respekt. Zusammen. Und vor allem: REDEN! Raus aus der eigenen Bubble und rein in den gesellschaftlichen Dialog. Auch wenn’s manchmal weh tut.

Das ist der Weg. Denke ich.

Epilog

An die Minderheit, die das alles jetzt schon lebt. Glückwunsch! Weiter so!

Und für den Rest gilt: Kurve kriegen wäre gut. Für uns alle.