Demokratie lebt von einem Menschenbild, das geprägt ist von Gemeinschaftssinn, Rücksichtnahme, Besonnenheit, Toleranz, Respekt, Kompromissfähigkeit und dem Willen, Herausforderungen und Problemen mit konstruktiven Lösungen zu begegnen.
Ohne Anstand keine Demokratie
Dieses Grundverständnis ist aktuell in weiten Teilen unserer Gesellschaft offenkundig verlorengegangen (wenn es überhaupt je vorhanden gewesen ist…). In allen Schichten und allen Bereichen. Hätte man mich vor 10 Jahren gefragt, ob wir jemals an einen solchen Punkt gelangen würden, ich hätte es nicht für möglich gehalten. Und heute frage ich mich: Wo ist eigentlich unser guter Wille hin? Und: Wo ist unser menschlicher Anstand geblieben?
Das Problem – liegt in uns selbst
Ja, wir leben in einer von vielen Krisen geprägten Zeit. Die Veränderung der geopolitischen Gesamtlage, militärische Konflikte, der immer stärker spürbare Klimawandel, eine rasante digitale Transformation, die angespannte Haushaltslage und auch die Nachwirkungen der weltweiten Pandemie – das alles sind große Herausforderungen. So etwas kann Angst machen und uns manchmal überfordern. Aber es ist trotzdem noch lange kein Grund, den dunklen Seiten der menschlichen Natur so hemmungslos ihren Lauf zu lassen, wie viele von uns das gerade tun.
Hartherzigkeit ist Trumpf
Wenn wir uns die aktuelle Betriebstemperatur in Deutschland anschauen, die Aggressivität der politischen Debatten, die Mauern, die in Köpfen und Herzen hochgezogen werden, den ideologische Lagerkampf und die Abwehrhaltung, mit der Menschen und Themen begegnet wird, dann ist unsere Gesellschaft gerade keine, in der man sich wirklich wohlfühlen kann und in der man gerne leben möchte. Ein Umstand, der auf unser ALLER Konto geht. Denn mit ein bisschen mehr gutem Willen von allen Seiten wäre vieles anders.
Wenn das ‚Miteinander‘ fehlt
Ein Krieg bleibt ein Krieg. Eine Klimakatastrophe eine Klimakatastrophe. Und eine wirtschaftliche Problemlage eine wirtschaftliche Problemlage. Nichts davon möchte ich kleinreden. Und nichts wird wie von Zauberhand gelöst werden, wenn wir wieder ein bisschen mehr von unserer Menschlichkeit und Anständigkeit in uns entdecken. Aber wir werden auf jeden Fall eine gute Chance haben, diese Herausforderungen zu bewältigen. Weil gemeinsam immer besser ist als jeder für sich und alle gegeneinander. Ja, das klingt nach einer Binsenweisheit. Aber wenn es eine ist, warum – zur Hölle – leben wir dann nicht einfach danach?
Keiner kann sich rausziehen
Ich kann dieses ‚Die sind schuld, dass es mir schlechtgeht‘ – ‚Die haben versagt‘ – ‚Die müssen was tun‘ Gejammer nicht mehr hören. Weil es eine ziemlich infantile Art ist, sich der eigenen Verantwortung zu entziehen. So funktioniert eine erwachsene demokratische Gesellschaft nicht. Jeder – egal ob im Großen oder Kleinen – ist gefordert, seinen/ihren Teil zum Gelingen des Ganzen beizutragen. Sei es durch ein aktives Mitgestalten oder durch Verständnis, Kompromissbereitschaft, Offenheit und Unterstützung.
Fehler sind erlaubt
Wir alle machen Fehler. Unser ganzes Leben hindurch. Warum also sollte es in großen Zusammenhängen wie Wirtschaft, Politik und Gesellschaft anders sein? Einen Fehler macht man in der Regel nicht aus vorsätzlicher Boshaftigkeit, sondern weil man es nicht besser weiß oder weil man gewisse Dinge nicht richtig eingeschätzt hat. Und solange man willens und in der Lage ist, einen Fehler zu erkennen und zu korrigieren und vor allem, offen damit umzugehen, ist das eine Fehlerkultur, die eine Gesellschaft NICHT beschädigt, sondern im Gegenteil sogar weiterbringt.
Ein Kompromiss ist kein Scheitern
Der Kompromiss ist die Kernkompetenz einer gut funktionierenden Demokratie. In einer Diktatur gibt es einen Einzelnen bzw. eine Führungsriege, die bestimmt und ein Volk, das gehorchen muss. Dessen möglicherweise abweichende Interessen und Meinungen werden nicht berücksichtigt. In einer Demokratie ist das anders. Sie lebt von der Vielfalt, in der ein gemeinsamer Nenner gefunden werden muss. Dass dabei nicht jeder und jede seine bzw. ihre Position 1:1 durchsetzen kann, liegt in der Natur der Sache. Dafür bietet sich allerdings die bestechende Möglichkeit, dass jeder und jede sich ein Stück mit seinen Vorschlägen und Wünschen einbringen und am Ende auch erwarten kann, dass zumindest etwas davon sich in einem gemeinsamen Kompromiss wiederfindet.
Die Gefahr des kollektiven Aufschaukelns
In dieser Woche hat der brandenburgische Inneninister Michael Stübgen (CDU) sich dafür ausgesprochen, das Asylrecht in seiner bestehenden Form abzuschaffen und bis es soweit ist, eine nationale Notlage auszurufen, damit Schutzsuchende an den Grenzen zurückgewiesen werden können. ‚Gehen uns jetzt eigentlich inzwischen die Gäule komplett durch?!‘ war mein erster Gedanke, als ich diese Meldung gesehen habe. Ein Thema, das von rechten Kräften aus machtpolitischem Kalkül nach vorn agitiert worden ist, in einer solchen Weise weiter zu befeuern, ist absolut unverantwortlich und inhaltlich falsch. Derzeit leben rund 3,4 Millionen Geflüchtete in Deutschland. Bei einer Gesamtbevölkerung von rund 83 Millionen. 46 Millionen davon sind erwerbstätig, 21 Millionen beziehen Rente und 11 Millionen sind Kinder und Jugendliche. Zum Vergleich: Im Jahr 1950 lebten 70 Millionen Menschen in der ehemaligen BRD und DDR, 14 Millionen davon waren Kriegsflüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten. Was lernen wir daraus: Deuschland befindet sich aktuell in keiner nationalen Notlage und steht auch nicht kurz vor dem Untergang. Migration ist eine Herausforderung, ja, aber kein Problem, das einen solch gefährlichen Alarmismus rechtfertigen würde.
Kommunikation ist der Schlüssel
Wir müssen miteinander reden. Das ist mein Credo schon seit vielen Jahren. Nicht übereinander, nicht gegeneinander – sondern miteinander. Das ist anstrengend, das verlangt uns einiges ab, weil wir lernen müssen, uns mit unterschiedlichen Ansichten und mit unbequemen Argumenten zu konfrontieren – ohne gleich dichtzumachen. Und wir müssen raus aus unseren Komfortzonen und aus den Bubbles, in denen wir uns nur immer wieder gegenseitig bestätigen. Und an die Adresse der politischen Entscheider: Gerade in krisenhaften Zeiten gilt: Je mehr Kommunikation, desto besser! Erklärt, was Ihr tut. Erklärt, warum Ihr es tut. Gebt den Menschen eine Möglichkeit, mit Euch in Kontakt zu treten und sucht das Gespräch mit ihnen. Aktiv und immer wieder. Auf allen Ebenen und allen Kanälen. Es gibt in einer Demokratie nichts Wichtigeres, als miteinander im Austausch zu bleiben und Dialogformate zu schaffen, in denen sich jeder und jede einbringen kann.
Frage nicht, was Dein Land für Dich tun kann…
…sondern was Du für Dein Land tun kannst. Dieses berühmte Zitat von John F. Kennedy beschreibt am besten, was das Grundverständnis von Menschen sein sollte, die in einer demokratischen Gesellschaft leben wollen. Und es zeigt am schmerzhaftesten, woran es uns im Moment am meisten fehlt.
Fragen an uns selbst
Ein paar Dinge, mit denen wir uns vielleicht in einer ruhigen Minute in aller Ehrlichkeit selbst konfrontieren sollten:
- Trage ich dazu bei, dass Demokratie funktioniert?
- Und wenn ja, wie?
- Wo setze ich mich konkret für ein besseres Miteinander ein?
- Kenne ich alle Aspekte eines Themas gut genug, um mir ein Urteil bilden zu können?
- Will ich mir wirklich anhören, was die andere Seite zu sagen hat und mit ihr ins Gespräch kommen?
- Will ich ein Problem konstruktiv lösen?
- Ist mein Glas halbleer oder halbvoll?
- Kann ich nachvollziehen, wie es sich anfühlt, Schutz und Hilfe zu suchen und dabei Zurückweisung und Hass zu erleben?
- Bin ich persönlich und unmittelbar von den Folgen der Migration nach Deutschland bedroht?
- Behandle ich andere Menschen so wie ich selbst behandelt werden möchte?
Man könnte diese Liste noch ein ganzes Stück weiter fortsetzen, aber allein diese Fragen ehrlich zu beantworten würde schon weiterhelfen.
Mensch bleiben
Bei allem, was wir tun und sagen. Mensch bleiben und anderen Menschen in genau der Menschlichkeit begegnen, die wir uns für uns selbst wünschen. Es gibt nichts Wichtigeres, wenn wir auch in Zukunft in einer freien, von Toleranz, Respekt und Gerechtigkeit geprägten demokratischen Gesellschaft leben wollen. Und es wäre schön, wenn wir uns wieder mehr daran erinnern würden.
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